Rache und Vergeltung
von Peter A. Walthard
Ein Relikt aus barbarischen Zeiten
Heute als gefährliches Relikt aus barbarischen Zeiten gesehen, war die Idee der Rache im alten Germanien eine Selbstverständlichkeit. In einer Gesellschaft, die weder Staat noch Polizei kannte, und die im wesentlichen aus Sippenverbänden bestand, war die Blutrache die einzige Möglichkeit, auf Angriffe von au&szig;en wirksam zu reagieren und eine gewisse Abschreckung, wie sie heute von Polizeiapparat und Gefängnissen ausgeübt wird, zu schaffen.
Eine weitere wichtige Funktion der Blutrache bestand darin, durch einen relativ strengen Codex, der beispielsweise Frauen und Kinder ausschloss und die Rache auf wichtige, einflußreiche Personen in der gegnerischen Sippe lenkte, die vorhandene Agression und Gewaltbereitschaft zu kanalisieren.
Jede Gesellschaft erfindet für sich ein solches System, legitime Agressionen „gesellschaftskonform“ auszuleben. Unsere offenen Gesellschaften sind denn auch keisewegs gewaltfrei.
Die Todesstrafe in den USA oder die alljährlichen polizielichen Knüppelorgien zum ersten Mai sind Beispiele für gesellschaftlich akzeptierte Gewalt. Im balinesischen Kulturraum, wo Gewalt gänzlich geächtet ist, verschaffen sich die Spannungen im Amok freien Lauf, der dann gesellschaftlich als Krankheit gewertet und so verarbeitet wird.
Liegt das Gewaltmonopol in den Händen des Staates, wird die Gewalt dadurch nicht geringer. Es ist wichtig, gegenüber Völkern, die heute noch Blutrache üben, nicht vorschnell eine „zivilisatorische“ Optik einzunehmen und die „primitive“ Blutrache einer „höherentwickelten“ Rechtsordnung gegenüber zu stellen. Sowohl die Sowjetunion wie das dritte Reich kannten das Gewaltmonopol des Staates, geschriebene Gesetze und Gerichte mit Prozessordnungen!
Mit der Blutrache verhält es sich ähnlich wie mit anderen Riten und Bräuchen unserer alten Sitte. Es wäre widersinnig, unmöglich und gefährlich, alles eins zu eins zu übernehmen, was vor über tausend Jahren in einer anderen Welt seine Richtigkeit gehabt haben mag. Wichtig ist jedoch, zu erspüren, welche Idee hinter einem Brauch wie der Blutrache steckt und allenfalls einen Weg zu finden, wie man diese Idee mit zeitgemässeren Mitteln ausdrücken kann.
Zwischen der germanischen Rechtsauffassung, die sich unter anderem in der Blutrache ausdrückt, und der heutigen, besteht ein fundamentaler Unterschied. Während sich die moderne Justiz vorallem am Täter orientiert, interessierten sich die Germanen mehr für das Opfer. In der heutigen Justizpraxis gilt alles Augenmerk dem Täter, der entweder für seine moralisch böse Tat bestraft oder in einer eher liberalen Auffassung durch geeignete Maßnahmen von seiner „Krankheit Kriminalität“ befreit werden und ein besserer Mensch werden soll.
Das Opfer tritt, beispielsweise in einem Vergewaltigungsprozess, nur als Zeuge auf und wird entsprechend behandelt. Während Hunderttausende in die Bestrafung oder Integration des Täters gesteckt werden, muß das Opfer oft hart dafür kämpfen, überhaupt seine Therapien zahlen zu können.
Die germanische Optik ist hier grundlegend anders. Das eigentliche Kernverbrechen, das am Opfer begangen wird, ist die Verletzung seiner persönlichen Würde, seiner Integrität. Ziel der Bestrafung ist es, dieselbe wiederherzustellen. Es geht also darum, daß im Opfer verursachte Unrechtsgefühl durch Genugtuung zu „heilen“. Dies kann durch Blutrache, das Zahlen von Wergeld oder sogar eine Entschuldigung erreicht werden. Salopp formuliert, wer zuletzt und am besten lacht, soll stets das Opfer sein.
Tatsächlich ist die Bestrafung oder Erniedrigung eines Täters für ein Opfer psychisch oft von großer Bedeutung. Es geht darum, die Schmach, die jemandem zum Beispiel mit einer Vergewaltigung angetan wurde, abzuwaschen, das Gefühl der Schande, des Opferseins, mit dem Triumph des endlichen Sieges zu tilgen. Dadurch stärkt sich auch das Sicherheitsgefühl des Opfers wieder, daß sich nun nicht mehr so hilf- und schutzlos fühlt. Es empfindet sich nicht länger als Verlierer, sondern wieder als Sieger und gewinnt sein altes Selbstvertrauen wieder.
Durch ein Verbrechen verschiebt der Täter ein Gleichgewicht zu ungunsten des Opfers, durch die Rache wird es wieder hergestellt.
Mannhelgi
Diese germanische Auffassung hat eng mit der Idee der „Heiligkeit des Menschen“, der Mannhelgi zu tun. In altnordischen Gesetzestexten heißt es zum Beispiel: „wenn der Friede in einem Menschen gebrochen wurde und seine Mannhelgi beschädigt wurde...“.
Die Würde des Menschen war den Germanen tatsächlich unantastbar. Wer die Würde eines anderen verletzte, zerstörte damit auch seine eigene, und da die Heiligkeit beider ein Stück der Heiligkeit der Sippe, des Volkes und letzlich der ganzen Welt war, stellte die Beschädigung dieses Heiligen ein Verbrechen gegen die Menschheit dar (es ist interessant zu sehen, wie analog diese Begriffe zu den seit dem zweiten Weltkrieg aufgekommenen neuen Rechtsideen wie dem „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, der Menschenwürde uä sind).
Die Strafe von Seiten der Gemeinschaft bestand daher darin, den Täter aus der Gesellschaft auszuschliessen. Er hatte nun, allen menschlichen Kontaktes entbehrend, nicht mehr Teil am Heiligen, das über den gemeinschaftlichen Kult und die Familie auf ihn übergegangen war und sich in seiner Macht und Kraft offenbart hatte. Denn durch das Fehlen eines Gegenübers, in dessen Augen er diese hätte manifestieren können, war alles was er tat, wert- und bedeutungslos. Die moderne Soziologie bestätigt, was die Germanen wussten: Der Mensch wird erst im Angesicht des Mitmenschen wirklich zum Menschen.
Interessant ist, daß grausame Bestrafungen lediglich in kultischem Rahmen, aber nicht als Bestandteil des Rechts bekannt waren.
Natürlich will ich nicht über die Nachteile der Blutrache schweigen. Endlose Sippenfehden, der irgendwann absurd werdende Verlust an jungem Leben, das Ausarten in ein sinnloses Blutbad und die letztlich die Gefährdung des Landfriedens. Hier liegt das Grundproblem darin, daß gerade das hohe Selbstwertgefühl der Germanen zu einem Gegensatz zwischen „dem Recht“ und „meinem Recht“ führte. Wer den Spruch des Things als ungerecht empfand, setzte sein Recht eben selber durch. „Er war ein sehr ungerechter Mann“ liest sich in den Sagas wie ein Kompliment, denn große Persönlichkeiten konnten kein Recht über dem ihren stehen lassen. Die große Schwäche der Germanen war schon immer ihr Stolz und ihre Halsstarrigkeit.
Trotzdem ist es erstaunlicherweise etwa auf Island, wo germanisches Recht lange galt, nicht zur völligen Zerrüttung des Staatswesens oder gar zu Bürgerkriegen gekommen. Letztlich sind alle Rechtsysteme nichts mehr als Gleichgewichtsysteme, die dauernd umzukippen drohen. Es steht uns eigentlich nicht an, unser gängiges Rechtsystem über das anderer Gesellschaften zu stellen. Immerhin waren im ersten Weltkrieg mit Deutschland, österreich, Frankreich und England vier vollentwickelte Rechtstaaten mit bis anhin nie gekannter Brutalität aufeinander losgegangen.
„Die Würde des Menschen ist unantastbar“
Wenn wir darüber Nachdenken, wie sich die Rache, oder, genauer, besser, die Idee, die dahinter stand, in einer heutigen Gesellschaft einfügen kann, müssen wir den Blick vom Täter auf das Opfer wenden. Genau dies scheint seit einigen Jahren zu geschehen. In der Schweiz gibt es seit kurzem ein Opferhilfegesetz, das verlangt, daß Opfer finanzielle Genugtuung für den ihnen zugefügten Schmerz erhalten und ihnen von Seiten des Rechtstaates verstärkt unter die Arme greifen will. Allgemein ist in der Rechtsprechung der Gedanke, daß Verbrechen und Entwürdigung zusammengehören erstarkt. Die noch vor wenigen Jahrzehnten von Anwälten vorgebrachte Argumentation, bei einer Vergewaltigung sei ja „nichts kaputt gegangen“, ist einer mehr auf die Integrität des Opfers gerichteten Betrachtungsweise gewichen.
Die Erklärung der Menschenrechte, der Menschenrechtsgerichtshof sind Beispiele dafür, wie nicht mehr nur das Einhalten nationaler Gesetze, sondern die Achtung und Wiederherstellung der Menschenwürde ins Blickfeld der Justiz rückt. Auch das deutsche Grundgesetz nimmt mit seinem berühmten Kernsatz „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ diese alteuropäische Vorstellung wieder auf.
Ich glaube, daß in dieser Vision eines mit heiliger Würde beseelten Menschen das eigentliche europäische Erbe liegt. Schon die Schrifttafeln der Hethiter fallen gegenüber denen ihrer Nachbarvölker durch ungewohnt milde Gesetze auf, und auch die Tradition der Griechen und Römer kennt wie die keltische und germanische den freien, würdigen, selbstverantwortlichen Menschen, der sich unter Einhaltung bestimmter ehrenvoller Grundsätze, man möchte Sagen, einer gewissen Fairness, mit seinesgleichen mißt.
Das humanistische Europa wurzelt im heidnischen Europa, und wenn ich meine, daß wir als Neuheiden auch die Rechtsgrundsätze der alten Sitte vertreten sollten, meine ich damit kein blutiges Rachegemetzel, sondern die Wiederherstellung der Würde des Opfers ins Zentrum aller juristischen überlegungen zu rücken.
Doch wir wollen uns nichts vormachen. Jeder von uns kann in eine Situation kommen, in der das Gesetz die Würde der Seinen nicht schützen kann oder will. In einer solchen Lage wird jeder selbst ruhig und besonnen mit seiner Sippe, seinen Ahnen und dem sittlichen Gesetz in seinem Herzen Zwiesprache halten müssen, um herauszufinden, was zu tun ist.
|